Skip to main content

Abschiedsfeiern

Kirchenferne sehnen sich oft nach Ritualen

Rituale lösen zusehends die Sakramente ab.
Ritualbegleiter bieten Hochzeiten und Beerdigungen ausserhalb der Kirche an. Nach Katastrophen will das Kollektiv rituell getröstet sein.
Von Michael Meier, Tagesanzeiger

Die zwei Flamingoblumen auf dem Altar - die eine mit rotem Band, die andere geknickt - stehen für das Wort des Propheten Jesaja: «Gott wird den gekrümmten Stab nicht abbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen.» Neben dem Altar brennt die Osterkerze. Alle 197 Teilnehmer an der Trauerfeier für den ermordeten Fluglotsen entzünden ihre Kerze am Auferstehungslicht. 25 Minuten dauert das Lichtritual in der Kirche Kloten. Der Sinn des Rituals ist offensichtlich: «Das Leben des Lotsen ist geknickt, in der Erinnerung aber und bei Gott lebt er weiter», sagt Flughafenseelsorger Claudio Cimaschi.
Die Skyguide sei mit dem klaren Wunsch an das Flughafenpfarramt herangetreten: «Wir wollen einen Trauergottesdienst samt Ritual.» Die Flughafenseelsorger sind längst zu Ritualexperten geworden. Nach dem Massaker in Luxor gestalteten sie die Trauerfeier im Grossmünster um ein Kerzenritual. Zuvor an der nächtlichen Trauerandacht besprengte Cimaschi die 36 im Hangar aufgestellten Särge mit Weihwasser. Nach dem MD-11-Absturz bei Halifax wiederum liess er im Zürcher St. Peter 226 weisse Rosen auf den roten Teppich legen.

Kultur des kollektiven Trauerns
Mit den brutalen Katastrophen der technologisierten Welt entsteht eine neue Kultur des Trauerns. Weil der urban-mobile Mensch kaum mehr an Beerdigungen im dörflichen Verband teilnimmt, will er bei Katastrophen im Kollektiv trauern - mit Hilfe von Ritualen, die allgemein verständlich sind: Abertausende haben nach dem Tod von Lady Di Blumen niedergelegt oder sich nach dem 11. September in Kondolenzbücher eingetragen. Nach dem Swissair-Grounding haben Entlassene ihrer Wut an einer Klagemauer in der Flughafenkapelle Luft gemacht.
Die Ritualdesigner gestalten die Rituale nicht einfach beliebig. Cimaschi, katholischer Diakon, lässt sich von der römischen Liturgie inspirieren, von den Sakramenten, die auf ein materielles Symbol wie Wasser, Brot oder Öl angewiesen sind. Auch in Ritualen verweist ein materielles Symbol auf Transzendenz. Cimaschi verbindet es meist mit einem Gebet.
Im Zentrum der Gottesdienste nach Katastrophen stehe heute immer ein Ritual - und nicht das Sakrament des Abendmahls. An der interreligiösen Feier mit Pfarrern, Imamen und Rabbinern nach dem MD-11-Absturz habe sich das geradezu aufgedrängt. Auch Kirchenferne könnten mit einem offenen Ritual mehr anfangen als mit dem Abendmahl, das seinen eigenen Wert habe. Im Unterschied zu den lateinischen Ländern wird hier zu Lande die alte Tradition, Abschiedsfeiern, Beerdigungen oder auch Hochzeiten mit dem Sakrament des Abendmahls zu feiern, zusehends aufgeweicht.
Die «neuen» Rituale haben eben keinen spezifisch kirchlichen, sondern einen archetypischen Gehalt. Der schwindenden Kirchenbindung zum Trotz bleibt die Sehnsucht, sich im Ritual der Transzendenz zu vergewissern. Es ist die Stunde der freischaffenden Theologen mit ihrer kirchendistanzierten Klientel. Beispiel Wolfgang Weigand: früher Theologe in der katholischen Kirche, bietet heute Hochzeiten, Beerdigungen und Geburtsfeiern ausserhalb der Kirche an.

Das Wort «Gott» vermeiden
Zumindest in der Sommerzeit lebt der Ritualbegleiter ganz gut von seinem Job: Von Mai bis Oktober ist er für 35 Trauungen gebucht - die meisten draussen in der Natur: im Wald, auf dem Schiff, beim Fluss oder bei einem Schloss. Weigand achtet darauf, dass die verlangte Romantik nicht in Kitsch umschlägt. Der Hochzeitsmacher fühlt sich nicht an kirchliche Vorgaben gebunden. Nur selten liest er etwas aus der Bibel vor. Das Eheversprechen umschreibt er etwa mit dem Satz von Camus: Liebe heisst einwilligen, mit jemandem alt zu werden. «Um das Wort Gott zu vermeiden, brauche ich Passivkonstruktionen wie: Diese beiden Ringe sollen gesegnet sein.» Der Bezug zur Transzendenz sei immer da und gewünscht.
Auch bei Beerdigungen draussen oder im Friedwald, wo er etwa als Symbol des Lebens Wasser über die Urne giesst. Bei der Beerdigung eines Bäckers liess Weigand Zopf austeilen, den die Witwe gebacken hatte. Abschiedsfeiern gestaltet der Ritualberater oft zusammen mit dem Musiker Luzius Dressler, der Gedichte von Erich Fried oder Rose Ausländer vertont und sich auf dem Cello oder der Gitarre begleitet. Kirchenferne lassen sich das etwas kosten. Während sie als Mitglied der Kirche gratis beerdigt oder getraut würden, zahlen sie bei Freischaffenden gegen 1500 Franken für eine Hochzeit und 1000 Franken für eine Beerdigung. Der Stundentarif beträgt 150 Franken. So sieht es der Schweizerischer Verband freischaffender Theologen und Theologinnen (SVFT) vor, dessen Mitglieder alle nicht mehr im Lohnverhältnis bei einer Landeskirche stehen.
Mit den Ritualgestaltern oder -beratern ist ein neuer Berufsstand am Entstehen, dem nicht nur ehemalige Theologen angehören. Der Lehrer und Erwachsenenbildner Thomas Wegmüller führt gar eine Fachschule für Rituale: Sie richtet sich an Leute, die Ritualbegleitung privat oder beruflich anbieten wollen. Gerade schliessen die ersten Absolventen die dreijährige berufsbegleitende Ausbildung ab - als Experten auch für Jahreszeitenfeste, archaische und esoterische Rituale der Naturreligionen usw.

Ritual beim Eintritt ins Altersheim
Vor vier Jahren hat Wegmüller zusammen mit der Ritualbegleiterin Brigit König das Ritualnetz gegründet, dem bisher 26 selbstständige Leute auch aus der Theologie, vor allem aber aus den Bereichen Sozialarbeit, Psychotherapie und Erwachsenbildung, angeschlossen sind: «Unsere Plattform dient dem Austausch und dem Bekanntmachen, dass es uns gibt», sagt König, die in Luzern das Sekretariat des Netzwerkes leitet. Die Musiklehrerin und Katechetin bietet auch verschiedenste Übergangsrituale an, etwa beim Eintritt ins Altersheim oder bei Scheidung und Trennung. Ausgehend von den Bedürfnissen der Leute, gestaltet sie Trennungsrituale mit einem oder mit beiden Partnern, zum Beispiel durch Ablegen der Ringe. «So kann man einen Lebensabschnitt abschliessen und behalten, was gut war», sagt König, selber geschieden.
Lebenskrisen und Übergänge sind bevorzugte Momente für Rituale. Die so genannten Rites de passage bannen in Situationen wie Abschiednehmen oder Veränderungen die Angst und setzen Kräfte für den Neuanfang frei. Der Autor und Ex-Priester Pierre Stutz arbeitet mehr mit persönlichen Ritualen, die den Alltag strukturieren helfen, wie das bewusste Stehen: «Ich stehe da, spüre meinen Grund, meinen Standpunkt.» Seine Alltagsrituale, die aus der spirituellen Begleitung von Kirchenfernen herausgewachsen sind, versteht er auch als «Widerstandsakt gegen die Hektik». Bei Lesungen und auch an seinen Kursen im Offenen Kloster ob Neuenburg bezieht er Rituale mit ein. Seine Ritualbücher «Heilende Momente», «Alltagsrituale» und «50 Rituale für die Seele» hat er über 200 000-mal verkauft.

Weniger Kirchgänger, mehr Rituale
Auch der Benediktinermönch Anselm Grün erzielt mit Ritualbüchern Rekordauflagen. Er lässt die ganze Palette der Rituale Revue passieren, von Alltagsritualen über spezifische Frauenrituale des Segnens, Salbens und Heilens bis hin zu den Sakramenten. Sakramente wie Taufe, Firmung oder Krankensalbung sind die Übergangsrituale der Kirche. Grün: «Gerade in Augenblicken unserer Schwäche, unserer Geburt, unserer Schuld, unserer Krankheit und Einsamkeit sagen sie uns die Kraft des Heiligen Geistes, göttliche Energie zu.» Kirchlich gebundene Menschen brauchen darum kaum Rituale. Weil es aber immer weniger Kirchgänger gibt, haben in der säkularen Gesellschaft Rituale Konjunktur. Umso besser, wenn ihr universaler Code der interkulturellen Verständigung dient.

Medien - Pressespiegel - Kirchenferne sehnen sich oft nach Ritualen, von Michael Meier, Tagesanzeiger